Nach unserem Tod geraten wir alle irgendwann in Vergessenheit.
Bei manchen geschieht das schon sehr bald, einige wenige leben etwas länger fort in der Erinnerung. Diese Einsicht kann einem ante mortem die Stimmung versauen, man kann sich aber auch an der Gnade des Vergessens erfreuen – letztlich ist das wohl Geschmackssache.
Jedenfalls ist es nicht ohne, sich künstlerisch mit Biografien von Verstorbenen auseinanderzusetzen, insbesondere wenn diese ihr Leben für ein ehrenwertes Ziel gegeben haben. Claudia Balsters und Hannah Goldstein haben sich das in Dear Annedore getraut. Unter anderem haben sie fotografische Abbildungen aus zwei Büchern von Annedore Leber, Das Gewissen steht auf (1954) und Das Gewissen entscheidet (1957), die der Aufrechterhaltung der Erinnerung an deutsche Widerstandskämpfer*innen dienen sollten, zu Collagen und einem Film verarbeitet. Für zwei Collagen wurden Teile die Gesichter der männlichen Protagonisten – Augenpartien, Münder, Nasen – mit Gefühl für organische Formen ausgeschnitten, für eine andere die Oberteile, die Anzüge der Herren bis zu den Kragen, in einer Arbeit sind ältere Männer zu sehen, die zur Gänze freigestellt wurden. Ähnlich wurde mit den wenigen Damen in diesen Büchern verfahren, wobei deren Konterfeis unversehrt blieben. Die Bildfragmente wurden vor verschiedenfarbigen Rechtecken locker-dynamisch aufgehäuft oder aneinandergereiht oder zu einer amorphen Masse zusammengeschoben. Eine Collage sticht hervor, weil sie das Bild nur eines Mannes zeigt – jenes von Julius Leber, Annedores Mann. Er steht aufrecht, offenbar vor Gericht, hinter ihm sitzen Uniformierte, sein Gesicht scheint auf diesem Foto Verzweiflung auszudrücken. Seine Hände, die das Revers seines Anzugs umklammern, und ein Teil seines Oberkörpers wurden ausgeschnitten und um 180 Grad nach unten gedreht. Im Film (6 Min., 5 Sek.) ist zunächst der Einband einer Ausgabe von Annedore Lebers Das Gewissen steht auf zu sehen. Zwei Hände legen im 3- Sekunden-Takt die Bildseiten dieses Buches, aus denen die Silhouetten und die Gesichter entfernt wurden, darauf übereinander. Auf dem Stapel wird danach noch Das Gewissen entscheidet platziert, und der beschriebene Vorgang wird mit Seiten aus diesem Band fortgesetzt. Der dritte Teil von Dear Annedore besteht aus Fotografien, auf denen Lebers Publikationen und für ihr Leben bedeutsame Gegenstände sowie Inszenierungen potentieller Szenen aus ihrem Alltag zu sehen sind.
Es ist ein Sakrileg, dass Balsters und Goldstein für den Film und die Collagen die Widerstandskämpfer*innen aus den historischen Fotografien ausgeschnitten haben. Einige dieser Fotos wurden bei Schauprozessen, also mit hoher Wahrscheinlichkeit für die NS-Propaganda aufgenommen. Sie zeigen die männlichen Helden als Angeklagte, gebückt, niedergeschlagen, vielleicht wirkten sie auf manche Zeitgenoss*innen auch so, als würden sie sich schuldig fühlen. Unsere Helden als Büßer? Auch das ist ein Schock.
Die besondere Wirkung der Arbeiten, die Teil von Dear Annedore sind, basiert darauf, dass die Künstlerinnen damit ungeschriebene, aber streng überwachte Gesetze gebrochen haben. Sie haben die Helden (nur die Männer) aus den Bildern herausgelöscht, ihre Gesichter fragmentiert, sie (das betrifft nun auch die Heldinnen) zu Massen oder Mengen unterschiedlicher Fasson arrangiert. Das macht man nicht, und das hat Folgen: Die Künstlerinnen drängen mich als Betrachter mit diesem Fauxpas aus meinen üblichen Pfaden im Umgang mit Fotografien aus der NS-Zeit. Sie führen mir die physischen Auslöschungen im NS bildlich vor Augen und zwingen mich damit dazu, über die Fotografie als Medium der Propaganda nachzudenken. Dieser Zwang geht auf einen in der Fotogeschichte und -theorie viel besprochenen Widerspruch zurück, darauf, dass eine magische Verbindung zwischen Personen und ihrem Abbild besteht, obwohl ich mir doch beweisen kann, dass ich aufgrund der Fotos keine verlässliche Aussage über die gezeigten Menschen treffen kann. Denn ohne die Biografien, die Annedore Leber verfasst hat, und von denen uns Balsters und Goldstein nur wenige Worte zeigen, bleiben die Bilder von den Gesichtern letztlich undurchdringlich.
Ich weiß also, dass bloß Abdrucke von Fotografien in Büchern zerschnitten wurden, dass Balsters und Goldstein den Toten nichts zuleide getan haben. Das Ergebnis der Zerstückelung wirkt trotzdem grausam. Ich werde davon an die Fotografien von Versehrten aus dem Ersten Weltkrieg erinnert, deren weggeschossenen oder weggesprengten Körperteile und Gesichtspartien ähnlich runde, organische Lücken hinterließen. Diese Fotografien standen der nachträglichen Verherrlichung des Gemetzels im Wege, weshalb es in der Zwischenkriegszeit Viele gab, die sich von ihnen in den Vorbereitungen auf die nachkommenden Verbrechen gestört fühlten. Außerdem scheint die Anordnung der Gesichter in manchen Collagen – explosionsförmig oder wie ein Blumenstrauß – von Werken aus den 1920ern inspiriert zu sein, von denen viele, die die Zeit überdauert haben, von Künstler*innen geschaffen wurden, die im sogenannten „Dritten Reich“ verfolgt wurden. Der Widerstand kommt demnach heute wie vor 100 Jahren durch einen Angriff auf das Medium Fotografie und auf unsere Rezeptionsgewohnheiten zum Ausdruck. Die Brutalität des Zerstückelns trifft (so lese ich diese Bilder zumindest) nicht die Held*innen der Vergangenheit, sondern die diskussionswürdige Annahme, die Fotografie würde die Wahrheit oder dürfe nur bestimmte Wahrheiten zeigen.
Jene, gegen die Widerstand geleistet wurde, die alten Nazis, waren nach dem Krieg, als Annedore Leber ihre Bücher herausbrachte, mehrheitlich noch da, während viele von Lebers Freund*innen und Mitstreiter*innen geflohen oder tot waren. Für den Film, der ein Element von Dear Annedore ist, wurden folgerichtig die Widerstandskämpfer aus den Publikationen entfernt. Übrig blieben nur ihre Silhouetten und der Rest der jeweiligen Buchseite. Im Film werden die Residuen von zwei Frauenhänden in rascher Folge übereinandergestapelt, sodass laufend neue Bilder entstehen. Um sie zu erfassen, muss sich das Auge im Sekundentakt neu orientieren. Es bleibt dabei immer wieder an kleinen Details hängen – am Gesicht eines Wachmanns oder eines Prozessbeobachters zum Beispiel. Diese Leute, die sich vermutlich in irgendeiner Form schuldig gemacht haben, werden gerahmt durch die besagten Fehlstellen und geraten so in den Fokus. Damit scheitert der ursprüngliche Versuch der Nazis, die Helden als Büßer bloßzustellen, endgültig. Also doch: ein Sieg der Wahrheit.
Die Gesichter der Frauen sind in den Collagen wie erwähnt intakt, obwohl man ihnen im NS ebenfalls Gewalt angetan hat. Manche lächeln sogar oder blicken seelenruhig in eine Zukunft, die sie sich erdacht oder erträumt hatten und die dann wohl ganz anders aussah als erwartet. Hier stehen mitunter ikonische Darstellungen auf dem Spiel. Jede*r kennt Aufnahmen von Sophie Scholl, der unerschrockenen Kämpferin, mit der sich zahllose junge Menschen identifizieren, nach der Schulen benannt, der Denkmäler errichtet wurden, deren Leben verfilmt wurde. Die von Balsters und Goldstein in den Fokus gerückten Frauen wirkten also entgegen herkömmlicher Geschlechterstereotype nicht alle im Hintergrund, einigen wird lebhaft gedacht. Von manchen von ihnen, die den Nazis zum Opfer gefallen sind, ist überliefert, dass sie dieses Erinnern ohne Zögern gegen das Überleben im Verborgenen eingetauscht hätten. Die Bilder, die die Künstlerinnen zu Collagen verarbeitet haben, erwecken hingegen keinen Anschein von Bedauern, die Gesichter der Frauen sind voll Schönheit und Stolz. Es reut mich nichts, so lautet der Titel einer 2020 erschienenen Sophie-Scholl-Biografie, auf dessen Cover sie nichts als glücklich wirkt.
Annedore Leber war eine der Überlebenden. Es heißt, man habe ihr als Frau nicht zugetraut, im Widerstand zu sein, weshalb man sie verschont habe. Die Collagen und der Film behandeln die öffentliche Seite von Annedore Leber, ihre Tätigkeit als Verlegerin und politische Akteurin. Wie alle Menschen hatte sie aber auch ein Privatleben. Ich nenne das jetzt einfach einmal so, auch wenn sie das Private (wenn überhaupt) vermutlich nur mit Mühe gegen des Politischen abschirmen konnte. Ihr, die bekanntermaßen im Dunstkreis des Widerstands lebte, die mit einem verfolgten Nazigegner verheiratet war, drohte die Politik ohne Frage noch den letzten Winkel der Existenz zu durchtränken. Allein dass sie überlebte, hat eine politische Dimension. Aber auch die Arbeit, die sie, die Bürgerliche, nach der Hinrichtung ihres Mannes leistete, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern – (neben anderem) der Verkauf von Kohle, Sinnbild und Lebensnotwendigkeit für die Arbeiter*innenschaft –, und ihre Tätigkeit als SPD-Politikerin hatten Signalwirkung.
Wie Annedore Lebers nicht an der Öffentlichkeit ausgerichtetes Um- und Versorgen ausgesehen haben könnte, daran lassen die inszenierten Fotografien von Goldstein und Balsters denken. Das spannt den Bogen zu den Künstlerinnen, die – so viel sei verraten – in modernen, gleichberechtigten Partnerschaften lebend, zwar für alles nur zur Hälfte, jedoch gerade deshalb auch für alles zuständig sind. Das ist für die Arbeit wichtig, weil die Kinder der Künstlerinnen in den Inszenierungen auftauchen, und weil Dear Annedore Teil einer Serie ist, die das Schicksal von Frauen in den Vordergrund rückt. Auch das Private der Künstlerinnen ist politisch, denn das Private ist ja angeblich immer politisch. Zumindest – darauf können sich alle einigen – ist das hier zu Sehende ganz offensichtlich künstlerisch, und es wird ja auch behauptet, dass jede Kunst politisch sei. Solange nicht vergessen wird, dass sie auch ästhetisch ist ... Doch dafür sorgt schon die Bildsprache von Balsters und Goldstein.
© Klaus Bock, 2022
Dear Claudia (Balsters), Dear Hannah (Goldstein),
schon lange betrachte ich eure Fotografien. Mein Blick gleitet hin und her; ich werde nicht müde, mir eure Bilder anzusehen. Sie erinnern mich an all die Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Musikerinnen, Protagonistinnen in Büchern und Filmen, die mir selbst als Inspiration dienen und Vorbild für die eigene Positionierung sind. Ich fühle erneut Begeisterung für diese Figuren in mir aufsteigen; ein Gefühl, das sich mir auch in euren Bildern mitteilt. Ein häufig als rührselig abgetanes, doch so elementares Gefühl.
Die Begeisterung treibt mich an. Ich möchte meine Gedanken für euch niederschreiben.
Claudia Balsters und Hannah Goldstein setzen sich in ihren Fotografien mit dem Leben und Wirken verschiedener Künstlerinnen auseinander. Ihre Serie „Dear Käthe“ ist ein Dialog, eine intim geführte Konversation zwischen Künstlerinnen über die Zeit hinweg. Darauf verweist schon der Titel, der sich aus dem englischen Grußwort zu Beginn eines Briefes und dem Namen der jeweils angesprochenen Künstlerin zusammensetzt. Er ist der sprachliche Beginn einer Konversation, dessen weiterer Verlauf bildlich und assoziativ abläuft. So sind die fotografischen Arbeiten des Duos als künstlerische Reaktionen, Antworten auf gedanklich geführte Gespräche zu betrachten. Die Kommunikation findet über die Kunst und ergänzend über die Recherche der Lebensumstände der jeweiligen Künstlerin statt. In der Betrachtung, dem Nachdenken über ihre Werke, dem Lernen über ihr Leben wird dieser nachgefühlt, sich ihr genähert. Damit sind Balsters und Goldstein zuallererst Betrachterinnen und Lernende, die ihre Assoziationen und Gedanken, ihr eigenes Gespräch mit den Künstlerinnen, in die künstlerische Form von Fotografien hüllen.
Die dialogische Struktur ist schon der künstlerischen Zusammenarbeit, der Zusammensetzung als Künstlerinnen-Duo inhärent. Von der Auswahl der darzustellenden Künstlerinnen über die Darstellungsweise, die Szenografie, die Kleidung, die Geste, bis zur Entscheidung der endgültigen Bildgruppe, alles wird von Balsters und Goldstein gemeinsam im Austausch erarbeitet. Es ist ein unterstützendes Miteinander, die Kollaboration zweier Künstlerinnen auf Augenhöhe.
Und der Dialog setzt sich mittels der Fotografien weiter fort; der Kreis der Beteiligten erweitert sich. Denn Balsters und Goldsteins fotografische Arbeiten markieren gleichzeitig das Ende ihrer eigenen künstlerischen Auseinandersetzung als auch den Beginn der Konversation mit dem/der Betrachter:in. Wie das Duo zu Beginn ihrer Arbeit, tritt jeder/jede neue Betrachter:in durch seine/ihre Wahrnehmung in ein Gespräch mit den Werken Balsters und Goldsteins: Er/sie reagiert auf die Anregungen der Bilder, trägt seine/ihre Gedanken an diese heran und zieht sie in seine/ihre Gegenwart hinein. Über die Fotografien gelangt er/sie in Berührung mit den dargestellten Künstlerinnen. Die Bilder werden zum Mittler zwischen den Zeiten; zum Medium, über das Kontakt mit der Vergangenheit aufgenommen wird. Lotte Laserstein, Louise Bourgeois, Ana Mendieta… sprechen über die Fotografien mit dem/der Betrachter:in. Doch auch Balsters und Goldsteins Stimmen sind durch die jeweiligen Inszenierungen, die auf ihren Assoziationen beruhen, deutlich zu vernehmen. Damit ist den Fotografien eine Multiperspektivität und Vielstimmigkeit inne, die sich mit jedem/jeder Betrachter:in in der Zeit weiter fortsetzt.
Die Fotografien sind gegliedert; werden zu Paaren oder Bildgruppen zusammengesetzt. Dabei wird in einem Bild die Künstlerin porträtiert, ob offen oder verhüllt, und in einem zweiten, dritten… ihr Oeuvre reflektiert. Auch hier setzt sich die Vielheit der Bilder gegen ein einzelnes, monolithisches durch. Die Fotografien zeigen Inszenierungen, die für die Kamera errichtet wurden. Raum, Requisiten und ergänzende Staffagefiguren werden mit Bestimmtheit ausgewählt. Nicht nur ausgewählt, sondern auch selbst produziert. So werden vorgefundene Räume durch selbst entworfene und gebaute Kulissen und Objekte vervollständigt. Die eigenen Assoziationen werden in Materialien übertragen, manifestieren sich in Objekten. Der Prozess ist ein bedachter, währender, langatmiger: Ideen werden zusammengetragen, geteilt, verworfen, entwickeln sich durch das wieder und wieder Überdenken im Kopf. So entstehen am Ende Fotografien voll narrativen Potentials: Jedes Objekt, jede Geste im Bild erhält Bedeutung, wird auf die Frau, den Körper im Bild, den Namen im Titel, bezogen; ob man mit der Künstlerin nun vertraut ist oder nicht. Die Bilder erzählen so von einem möglichen Leben, Begebenheiten und Begegnungen, Gefühlen und Sichtweisen.
Es ist Goldsteins Körper, der von den beiden Künstlerinnen in den Kulissen positioniert wird. Ihre Haltung und Gesten ergeben sich aus der Interaktion des Duos: Balsters Blick durch die Kamera und Goldsteins Bewegungen davor. Position und Kleidung werden lose dem Vorbild angenähert, keineswegs imitiert. Immer bleibt die Distanz zwischen der Künstlerin, an die sich die Bilder anlehnen, und eigener Inszenierung präsent. Goldsteins Körper macht die jeweilige Künstlerin sichtbar; der Körper der Künstlerin, die Frau hinter den Arbeiten, ist enorm präsent. So wird das Werk immer auch auf die Person bezogen, wird nicht ohne die Künstlerin, die Frau, ihren Alltag, ihre Beziehungen als Tochter, Schwester, Mutter… und die sich ihr stellenden Herausforderungen gedacht.
Mit ihrem Blick auf Künstlerinnen sind die Bilder Balsters und Goldsteins enorm aktuell. Viele Künstlerinnen, ebenso wie Schriftstellerinnen und andere weibliche künstlerisch Wirkende und Denkende werden heute wiederentdeckt und erlangen die lang verdiente Öffentlichkeit. Diskussionen um eine Gleichberechtigung, die in alle Lebensbereiche hineinreicht, werden geführt. Die Rolle der Frau in der Gesellschaft, und ebenso in der Kunst, bedarf auch nach vielen Jahren des Kampfes Klärung, lässt viele Forderungen ungelöst. Balsters und Goldstein führen uns mit ihren Werken, ebenso wie mit ihrer Kollaboration als Künstlerinnen, einen empathischen Feminismus vor, der von anerkennender Vielstimmigkeit geprägt ist und vom Dialog lebt.
Viele Künstlerinnen kannte ich; viele habe ich durch eure Arbeiten erst kennengelernt; alle gemeinsam habt ihr mir näher gebracht. Meine eigene Zwiesprache mit euch, mit Claude Cahun, Ruth Asawa, Hannah Wilke… war voll Freude; ich habe gelacht, war manchmal auch melancholisch gestimmt. Ich habe viel nachgedacht, über Künstlerinnen, die Frauen in meinem eigenen Leben, mich. Für diese Erfahrung danke ich euch.
Julia
© Julia Kochanek, 2021
Vielleicht haben Sie schon einmal gesehen, wie Croissants gemacht werden.
Der Teig wird dünn ausgerollt und gefaltet, dann wieder ausgerollt und wieder gefaltet usw. Zwischen den Schichten verdampft beim Backen das Wasser und bläst damit den Teig auf. Von außen betrachtet ist das fertige Croissant eine ansprechende Einheit. Dessen wahres Wesen allerdings, dessen Vielschichtigkeit, kommt erst zum Vorschein, wenn man sich darin vertieft. Mit claudia balsters’ und hannah goldsteins Reihe Dear Käthe, bestehend aus großformatigen Fotografien und Collagen, verhält es sich ähnlich. Den Titeln zufolge sind die zugehörigen Arbeiten Künstlerinnen früherer Generationen gewidmet. Sie wirken unmittelbar reizvoll, was an der eleganten Bildsprache und der perfekten Ausführung liegt. Das alleine genügt, um die Arbeiten eingehend betrachten zu wollen, wobei der Blick jedoch unweigerlich in die Tiefe wandert. Zunächst ganz banal – in Dear Hannah (Höch) und Dear Louise Bourgeois I und II – in das darauf abgebildete räumliche Setting, das aus unzähligen Schichten besteht: aus ausgeschnittenen Silhouetten (gemäß Titel die von Hannah Höch) und Stoffbahnen (ein Vorhang?) mit Bordüren, rätselhaften Stickereien und Applikationen, sowie aus Karton- und Holzaufbauten. Dazwischen lugen hannah goldstein und Körperteile von ihr hervor. Diese Arrangements, für die das Werk und das Leben bekannter bzw. beinahe in Vergessenheit geratener Künstlerinnen sehr lange gewälzt und zu einer neuen Einheit geformt wurden, wurden letztlich in Fotos verwandelt. Das gilt auch für Dear Lotte (Laserstein) I, worin die Schichten und der Raum jedoch auf ganz andere Weise als in den oben erwähnten Werken aufgebaut werden: Ein Muster, nachempfunden einer Malerei Lasersteins, wurde aufgegriffen, um den Überwurf einer Couch zu gestalten, auf der hannah goldstein sitzt, und die Farbkopie eines Ausschnitts aus ihrer Malerei In meinem Atelier von 1928 hängt hinter der Couch an der Wand. So – unter Zuhilfenahme des Raumes – gelangen balsters und goldstein von ihrer Auseinandersetzung mit den Biografien und dem Werk der Künstlerinnen zu einer eigenständigen Ästhetik. Der Raum macht eine Positionierung darin erforderlich, die in eine Fotografie überführt wird, und damit in ein Medium, dessen Handhabung wiederum mit raumbezogenen ästhetischen Entscheidungen einhergeht: Was soll auf dem Bild zu sehen sein, was ist im Fokus, aus welcher Perspektive und in welchem Licht wird der Raum aufgenommen? Am Ende werden die Bilder in der Ausstellung, in einem Raum gezeigt. Dahinter klebt in einem Fall eine Tapete an der Wand – ein Überbleibsel eines mittlerweile nicht mehr existierenden anderen Ausstellungsraumes, in dem balsters und goldstein vor einigen Jahren ihre Arbeiten gezeigt haben –, ein andermal ein riesiges Foto eines an eine gerötete Extremität erinnernden Baumstamms. In derartigen Räumen beschreiten goldstein und balsters verschlungene Pfade durch Zeiten, Schichten, Medien und Biografien; was Ersteres und Letzteres betrifft, durch ihre eigenen und durch die ihrer Vorgängerinnen, mit denen sie das Künstlerinnendasein, das Frau- und/oder Mutter-Sein gemein haben. Entsprechend tauchen auch Kinder in den Bildern auf, die in unterschiedlicher Weise grafische mit räumlichen Darstellungsweisen verbinden. Zum Beispiel in Dear Ruth (Asawa) II und III, wo die Rundungen des Bauches der schwangeren hannah goldstein und Babykörper die Schattenlinien krümmen. Ähnliches geschieht in der Dear Hannah (Wilke)-Reihe, für die Kaugummistreifen aufgestellt und zu Schamlippen-Skulpturen geformt wurden, die vor einem farbigen Hintergrund und in Aufsicht fotografiert wiederum fast zweidimensional wirken. Dazu gibt es in Dear Lotte (Laserstein) II Arme, die die Oberfläche der Malerei durchbrechen und die nackten gemalten Frauenkörper umschlingen, und in Dear Claude (Cahun) I ist goldstein als Spiegelung in einer Goldfolie zu sehen, als sei sie von Klimt gemalt worden. Von besonderer Bedeutung ist zudem der Naturraum: claudia balsters hat hannah goldstein für die Arbeit Dear Paula (Modersohn) in einem Birkenwald fotografiert, der aussieht wie ein aquarellierter Vorhang. In einem anderen Bild (Dear Ana (Mendieta) I) sitzt goldstein auf einem Ast mit abgestütztem Arm – eine Pose aus einer Zeit, als man noch lange stillhalten musste für ein Porträtfoto. Auf diese Weise verschränken sich in Dear Käthe der natürliche, physische Raum und jener der Malereien und Fotografien zu einer Reminiszenz auf die Kunstgeschichte. Doch Schicht für Schicht feiner Goldfolie und zarter Laken ergeben – um auf die Croissants zurückzukommen – viel mehr als eine Summe von Farben, Formen und Verweisen: Es entsteht ein stimmiges und zugleich detailverliebtes Werk, dessen Ästhetik die teils bedrückenden Biografien der gewürdigten Künstlerinnen ungeschminkt vermittelt und dabei den Betrachter*innen Wege zu einer unvoreingenommenen Rezeption eröffnet.
© Klaus Bock, 2022